Bewusste Ruhe ertragen

Eine Toleranz für das Nichtstun aufbauen und den Nutzen erkennen

Vielen Menschen fällt es in gewisser Weise schwer, das Gefühl zu ertragen, ihre Zeit nicht zu nutzen. Entweder muss etwas Produktives zu tun sein oder die alternative „Ruhe“ (=Ablenkung) muss so strukturiert sein, dass das Gefühl, nichts zu tun, nicht aufkommt. Das kann auch in Form von unbewusster Ruhe, also Schlaf, sein. Im Schlaf merkst du erstens nicht, dass du „nichts“ tust, und zweitens wird Schlaf im Allgemeinen auch als nützlicher Zeitvertreib angesehen, geht also in Ordnung. Selbst eine Meditationspraxis kann eine Ablenkung oder Gegenreaktion gegen das Gefühl der Untätigkeit darstellen und wenig hilfreich sein für deine tatsächliche Toleranz für Ruhe, Nichtstun und Nichtdenken, wenn deine Praxis (noch) keine offene Komponente beinhaltet, die dich auch mit dem Unbehagen gegenüber dem tatsächlichen Nichtstun konfrontiert.

Bewusste Ruhe

Wie oft erlaubst du dir, eine Weile bewusste Ruhe zu erleben, also tatsächliche Ruhe, in der du nichts tust, wenig bis gar nicht denkst und auch nicht schläfst? Eine Ruhe, in der du nicht einmal ein bisschen produktiv oder abgelenkt bist. Schau dir selbst in deinem Alltag zu und beobachte, wie du mit Gelegenheiten für bewusste Ruhe umgehst. Wie du, wenn du plötzlich vor dem erlebten Nichts der Gegenwart stehst, in Nützliches/Produktives oder in Ablenkung gehst, in Angriff oder Flucht, obwohl du sehr wohl die Möglichkeit hättest, völlig untätig zu sein und dir eine ernsthafte und nicht verschlafene Auszeit zu gönnen.

Warum bewusste Ruhe nutzen?

Wenn du in bewusste Ruhe gehst, tauchen mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr schnell einige wirklich überzeugende Gründe auf, wieso diese Ruhe sofort wieder beendet werden muss. Wie auch immer diese Gründe sich dir präsentieren, sie können das Aushalten von Ruhe zu einer echten Herausforderung machen. In einem solchen Zustand von bewusstem Ruhen wirst du zwangsläufig mit einer Reihe von Dingen konfrontiert, die dich im Alltag entweder ins Tun oder aber in Ablenkung bringen. Ausgelöst werden Tun und Ablenkung durch ein Gefühl, dass es so, wie es gerade ist, nicht gänzlich in Ordnung ist. Das ist dann mitunter schwer zu ertragen. Aber hier liegt der große Nutzen dieses Zustandes: Du lernst, mit echter Ruhe zurechtzukommen, was nicht selbstverständlich ist. Alles, was dich in irgendeiner Form innerlich umtreibt, taucht hier irgendwann auf, weil du durch das Seinlassen von Tun und Denken einen großen leeren und stillen Raum bereitstellst, in dem sich alle Erinnerungen, Gedanken und Gefühle, die du ansonsten durch Tun oder Ablenkung bewusst oder unbewusst vertreibst, langsam wie scheue Tiere einfinden können. Manche sind scheuer als andere und brauchen einen sehr großen und sehr stillen Raum, um hervorzukommen, und manche zeigen sich dir noch während du diesen Raum betrittst. Einige sind sehr süß, stolz anzuschauen, manche schauen furchterregend oder unheimlich peinlich aus, aber es sind alles deine und es ist eine Art der Selbstfindung, sie nach und nach kennenzulernen und mit ihnen diesen Raum zu teilen und in vielen Fällen zu lernen, ihren Anblick und ihre Anwesenheit zu ertragen. Du hast hier die Chance, dich auf einer ganz neuen Ebene kennenzulernen, und gleichzeitig gewöhnst du dich daran, dein Innerstes präsent sein zu lassen, ohne es durch Tun oder Ablenkung ändern, töten oder verstärken zu wollen. Du übst dich in tiefer Selbstreflexion, ohne etwas tun zu müssen. Du musst dieses Nichtstun nur ertragen lernen, und das schaffst du durch zuerst kurze und später immer längere Zeiten bewusster Ruhe, ganz allmählich und immer dann, wenn du gerade die Gelegenheit hast.

Wie immer – Eine einfache Übung

Wenn du einen Zeitpunkt in deinem Tag bemerkst, der sich für ein paar Momente bewusster Ruhe eignet, dann leg alles beiseite und lass den Körper zur Ruhe kommen und die Gedanken sich langsam legen, und dann warte, was passiert, und beobachte nur. Wenn deine Gedanken weiterrasen, lass sie rasen, denn manchmal bedeutet bewusste Ruhe nämlich, die Kontrolle über die Gedanken sein zu lassen und ihnen zuzuschauen, wie sie von links nach rechts und von oben nach unten und quer durcheinandergehen. Es ist das Aufgeben von Kontrolle, das den Geist allmählich zur Ruhe bringen wird. Und wenn plötzlich die nächste Aufgabe für dich ansteht oder du etwas hast, was du jetzt gerne beginnen möchtest, dann steh nicht sofort auf und tue es, sondern gib dir noch ein paar Momente Zeit, in denen du diesen Antrieb, dieses Gefühl des Tun-Wollens nur erlebst, ohne zu reagieren. Dieses Gefühl ist nur ein forsches Tier in diesem stillen Raum, das lärmt und dich zum Mitmachen bringen möchte. Wie zeigt sich dieses Gefühl körperlich? Welche Emotionen und Gedanken werden dadurch ausgelöst? Und wenn du die Effekte dieses Antriebs kurz ausgehalten hast, dann gehe bedacht in die Aktivität und tue.

Ist bewusste Ruhe Meditation?

Ja! Bewusste Ruhe ist das, was es bedeutet, offene Meditation zu praktizieren. Ob du das nun als Meditation betrachtest oder nicht, ist unwichtig. Es macht allerdings Sinn, sich Zeiten der bewussten Ruhe so einzurichten, dass man möglichst lange auch tatsächlich bewusst bleiben kann, also nicht einschläft oder wegdämmert, und dafür eignet sich eine Meditationshaltung nunmal besonders gut (ein sich selbst ausbalancierender und tragender Oberkörper, offene, aufmerksame Haltung). Auch ein Ort, an dem du mit keinen oder nur minimalen aktiven Ablenkungen konfrontiert bist, kann hilfreich sein. Und wie gesagt: Je öfter und je länger du dir einen solchen stillen Raum bereitest, desto eher trauen sich auch die ganz scheuen Gedanken und Emotionen irgendwann, sich neben dich zu setzen, und du lernst langsam, mit ihrer Anwesenheit – mit deiner eigenen Anwesenheit – klarzukommen, sie zu ertragen. Dann wird irgendwann aus diesem Ertragen einfach offenes Sein.